Naturgeschichten aus Garten, Wald und Flur
Echte Geschichten aus der heimischen Natur
– unterhaltsam, informativ und manchmal ganz schön schräg –
Naturgeschichten
Echte Geschichten aus der heimischen Natur
– unterhaltsam, informativ und manchmal ganz schön schräg –
Waldeidechse
(Zootica vivipara)
Es ist einer dieser Frühsommertage, an denen der Wald noch still atmet. Die Nacht liegt noch nicht lang zurück, feuchter Dunst hängt zwischen den Farnwedeln, und die Schritte auf dem weichen Boden klingen gedämpft. Der Pfad ist schmal, von moosbewachsenen Steinen gesäumt, hier und da glitzert der Tau auf den Halmen. Die Sonne hat gerade erst begonnen, das dunkle Unterholz in goldwarmes Licht zu tauchen
Plötzlich eine Bewegung. Kaum wahrnehmbar. Ein Schatten huscht über das Laub, hält auf einem sonnenbeschienenen Stein inne. Wer jetzt nicht weitergeht, sondern einen Moment verweilt, wird vielleicht Zeuge einer jener Begegnungen, für die es sich lohnt, früh aufzubrechen. Eine Waldeidechse – Zootoca vivipara – hat sich aus ihrem nächtlichen Versteck gewagt. Kaum länger als ein Bleistift, mit schmalem Kopf und glänzenden Schuppen liegt sie dort, völlig regungslos. Doch wer genau hinsieht, erkennt, wie ihr winziger Brustkorb im Rhythmus ihres Atems bebt, wie ihre Augen wachsam über die Umgebung gleiten.
Nur ein paar Sekunden, dann ist das scheue Tier wieder verschwunden. Lautlos, wie ein Gedanke.
Solche Momente sind flüchtig – und vielleicht ist es gerade das, was diesen Tieren so lange einen Hauch des Unheimlichen verlieh. Denn in der Vorstellung vieler Menschen waren Eidechsen nie einfach nur Tiere. Ihr plötzliches Auftauchen, ihre flinke, lautlose Flucht, die ledrige Haut und der zuckend umherschweifende Blick – all das wirkt wie aus einer anderen Welt.
Und so rankten sich im Laufe der Jahrhunderte unzählige Geschichten um die kleinen Reptilien. In alten Bauernkalendern hieß es, wer eine Eidechse über den Fuß laufen lasse, habe Glück in der Liebe. In anderen Gegenden galten sie als Vorboten von Krankheit oder Unheil. Und immer wieder begegnet man der Vorstellung, Eidechsen seien giftig, gefährlich und vor allem irgendwie „nicht ganz richtig“.
Natürlich ist das biologisch betrachtet alles Unsinn. Die Waldeidechse ist weder giftig noch gefährlich, sondern ein völlig harmloses, zurückgezogen lebendes Reptil. Und doch lohnt es sich, diesen alten Vorstellungen nachzuspüren – denn sie zeigen, wie tief die Beziehung zwischen Mensch und Echse auch in kulturellen Mythen verwurzelt ist. Vielleicht hilft uns gerade das, die Waldeidechse nicht nur als zoologisches Studienobjekt zu begreifen, sondern auch als einen tief verwurzelten Teil unseres Natur- und Kulturerbes.
Vielfalt entdecken
– Einladung, der Natur mit offenen Augen zu begegnen –
Ein Rascheln im Laub, ein flinkes Huschen über den moosigen Boden – oft bekommt man Zootica vivipara, die Waldeidechse, nur flüchtig zu Gesicht. Als Meisterin der Tarnung fügt sie sich perfekt in ihre Umgebung ein. Mit einer Gesamtlänge von 14 bis 16 Zentimetern gehört sie zu den kleineren Vertretern der heimischen Reptilien.
Die Waldeidechse bewohnt eine Vielzahl von feuchten bis mäßig trockenen Lebensräumen. Neben Feuchtwiesen, lichten Wäldern und sonnigen Waldrändern besiedelt sie auch Moore, Heiden, Rasenfluren, Steinbrüche, Bahndämme und sogar naturnahe Gärten. Dort verbringt sie die meiste Zeit des Tages mit der Nahrungssuche oder mit dem Sonnenbaden auf geeigneten Flächen, um ihre Körpertemperatur zu regulieren.
Als wechselwarmes Tier ist sie auf externe Wärmequellen angewiesen, um aktiv bleiben zu können. In den frühen Morgenstunden sieht man sie oft reglos auf Steinen oder im Gras liegen und die ersten Sonnenstrahlen genießen. Je wärmer es wird, desto agiler wird sie: Blitzschnell erbeutet sie kleine Gliederfüßer – vor allem Insekten, Spinnen, Käferlarven und Raupen. Die Jagd erfolgt meist im Ansitz: Sobald ein Beutetier in Reichweite kommt, schnellt sie mit einem kurzen Sprint vorwärts.
Eine Besonderheit dieser Art ist ihre Fähigkeit zur Ovoviviparie, also zur lebendgebärenden Fortpflanzung. In Mitteleuropa trägt die Waldeidechse ihre Eier im Körper und bringt die Jungtiere voll entwickelt zur Welt. Diese Anpassung ermöglicht es ihr, auch kühlere und feuchtere Regionen zu besiedeln, in denen offen liegende Gelege sonst schnell auskühlen würden. In Südwesteuropa gibt es jedoch Populationen, die noch Eier ablegen.
Im Spätsommer kommen die winzigen, etwa drei bis fünf Zentimeter langen Jungtiere zur Welt. Sie sind von Anfang an selbständig und beginnen sofort mit der Nahrungssuche. Allerdings sind sie in den ersten Lebenswochen besonders gefährdet – zahlreiche Fressfeinde wie Vögel, Kleinsäuger, Schlingnattern oder auch große Laufkäfer stellen ihnen nach.
Die Lebenserwartung der Waldeidechse beträgt in der Natur meist vier bis fünf Jahre. In Ausnahmefällen können einzelne Tiere bis zu zwölf Jahre alt werden. Doch viele Herausforderungen wie Fressfeinde, kalte Winter und Eingriffe des Menschen in ihren Lebensraum setzen der kleinen Echse zu und lassen nur wenige Individuen ein hohes Alter erreichen.
Die Waldeidechse gehört zur Klasse der Reptilien (Reptilia) und innerhalb dieser zur Ordnung der Schuppenkriechtiere (Squamata), einer artenreichen Gruppe, die sowohl Eidechsen als auch Schlangen umfasst. Ihre nächsten Verwandten sind die Echten Eidechsen (Familie Lacertidae), zu denen auch die Zauneidechse (Lacerta agilis) gehört. Diese ist in Deutschland insgesamt noch weit verbreitet, in manchen Landesteilen wie Nordrhein-Westfalen aber vielerorts selten geworden, da geeignete Offenlandlebensräume zunehmend verschwinden.
Eine entfernte, aber interessante Verwandte ist die Blindschleiche (Anguis fragilis). Obwohl sie wegen ihres schlangenähnlichen Aussehens oft für eine Schlange gehalten wird, ist sie biologisch eine beinlose Eidechse aus der Familie der Echten Eidechsen (Anguidae). Ihr Körperbau ist ein eindrucksvolles Beispiel für konvergente Entwicklungen innerhalb der Schuppenkriechtiere, bei denen verschiedene Linien unabhängig voneinander eine ähnliche Körperform entwickelt haben.
Schlangen – wie die Ringelnatter (Natrix natrix) – gehören wie die Eidechsen zu den Schuppenkriechtieren (Squamata). Trotz deutlicher äußerer Unterschiede teilen sie mit den Eidechsen viele anatomische Merkmale, wie z.B. den Hautaufbau mit periodischer Häutung und den flexiblen Schädelbau.
Insgesamt ist die Reptilienfauna Deutschlands relatvergleichsweise artenarm. Dies liegt vor allem am eher kühlen Klima: Als wechselwarme Tiere sind Reptilien auf ausreichend hohe Umgebungstemperaturen angewiesen, um aktiv bleiben zu können. Die Notwendigkeit einer frostfreien Überwinterung setzt ihrer Verbreitung in nördlichen Breiten enge natürliche Grenzen. Doch diese Grenzen verschieben sich. Mit der fortschreitenden Klimaerwärmung dringen wärmeliebende Arten immer weiter nach Norden vor. Schon heute werden südliche Eidechsen- und Schlangenarten teilweise weit außerhalb ihres ursprünglichen Verbreitungsgebietes nachgewiesen – ein Trend, der sich in den kommenden Jahrzehnten noch verstärken dürfte.
Die Waldeidechse ist eine der am weitesten verbreiteten Reptilienarten Europas. Ihr natürliches Areal reicht von Irland und der Atlantikküste Frankreichs über Nordspanien, die Po-Ebene, Südserbien und Bulgarien bis nach Nordkasachstan und Ostsibirien, einschließlich der Inseln Sachalin und Hokkaido. Sogar in arktischen Regionen wie Lappland, Südnorwegen und am Varangerfjord, jenseits des 70. Breitengrades, findet man noch Populationen. Als ausgesprochene Spezialistin gemäßigter bis kühler Klimazonen meidet sie hingegen die heißen Mittelmeerregionen.
In Deutschland ist Zootica vivipara nahezu flächendeckend verbreitet. Lediglich in Marschgebieten an der Nordseeküste und in intensiv genutzten Agrarlandschaften wie der Magdeburger Börde fehlt sie weitgehend. Die Waldeidechse bevorzugt strukturreiche, feuchte bis mäßig feuchte Lebensräume wie Moore, Heiden, lichte Wälder, Waldränder und extensiv bewirtschaftete Wiesen. Essenziell sind dabei sonnenexponierte Flächen für die Thermoregulation sowie dichte Vegetation, Steinhaufen oder Totholz als Deckung und Versteck.
Gesetzlich steht die Waldeidechse in Deutschland unter strengem Schutz: Sie ist nach dem Bundesnaturschutzgesetz besonders geschützt und fällt zusätzlich unter Anhang IV der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Fang, Störung oder Tötung der Tiere sowie die Zerstörung ihrer Fortpflanzungs- oder Ruhestätten sind verboten.
Bundesweit steht die Waldeidechse mittlerweile auf der Vorwarnliste der Roten Liste. In mehreren Regionen werden Rückgänge dokumentiert, insbesondere infolge des Verlusts strukturreicher Lebensräume. Intensivierte Landwirtschaft, Flächenversiegelung, Straßenbau und der Einsatz von Pestiziden gefährden zunehmend ihre Nahrungsgrundlage und Rückzugsräume.
Hinzu kommt der Klimawandel: Austrocknende Feuchtwiesen und Moore könnten künftig wichtige Lebensräume vernichten. Um Zootica vivipara langfristig zu schützen, ist der Erhalt und die Pflege strukturreicher, feuchter Lebensräume entscheidend. Maßnahmen wie die Anlage von Kleinstrukturen – etwa offene Bodenstellen, Totholz oder Steinhaufen – sowie die Vernetzung isolierter Lebensräume durch Biotopverbundsysteme tragen wesentlich dazu bei, die Bestände zu sichern und der Art eine Zukunft in unseren Landschaften zu bewahren.
Waldeidechse bringt lebende Jungtiere zur Welt, die sich nach der Geburt aus der Eihülle befreien.
Creator: mike knopp
Zootica vivipara
Waldeidechse
Menden (Sauerland) / Asbeck
07/05/2011