Naturgeschichten aus Garten, Wald und Flur
Unsere Story-Sammlung erzählt echte Geschichten aus der heimischen Natur
– unterhaltsam, informativ und manchmal ganz schön schräg –
Ohrenkneifer
(Fortificula auricularia)
In den populären Bestimmungsbüchern wird Fortificula auricularia im Deutschen üblicherweise schlicht als Gemeiner Ohrwurm bezeichnet – wobei „gemein“ nicht als fies oder gar böse zu verstehen ist, sondern schlicht als gewöhnlich. Der Volkskmund kennt allerdings noch zahlreiche andere, wenig vertrauenerweckende Namen: Ohrenschlüpfer, Ohrkneifer, Ohrenhöhler, Ohrenpitscher, Ohrschlitz, Ohrwuzler, Ohrengrübler, Ohrenschlepper oder Ohrenschleifer.
Eingedenk der Vielzahl seiner weiteren, landläufig bekannten und wenig vertrauenerweckenden Namen verwundert kaum, wie sehr das Tier einst von manchen Leuten gefürchtet wurde. Es heißt, der Ohrwurm krieche nächtens heimlich in den Gehörgang, und verschaffe sich – das Trommelfell mit seinen scharfen Hinterleibszangen zerreißend – Zugang zur Schädelhöhle, um dort seine Eier abzulegen. So lautete die über Generationen kolportierte Legende. Ein gar grausliges Hirngespinst, von dem sich womöglich der ein oder andere Horrorfilmer anregen ließ.
Aber natürlich wissen wir Heutigen, dass derlei Geschichten ausschließlich hanebüchener Mumpitz sind!
Tatsächlich sind Ohrwürmer so harmlos, wie ein Insekt nur sein kann. Gern wird der „gemeine“ Bestandteil im deutschsprachiger Artnamen als hinterhältig oder bösartig missverstanden, statt im eigentlichen etwas altertümlichen Sinne als gewöhnlich, als nichts besonderes: Ein ganz ordinärer Ohrkneifer. Seinen schlechten Ruf verdankt das Tier seinem bedrohlich anmutenden Zangenpaar am rückwärtigen Körperende. Die Anatomen bezeichnen diese umgebildeten Hinterleibsanhänge als Cerci. Wohl verwendet der Ohrwurm diese Glieder als Werkzeug bei der Jagd, und die Männchen nehmen sie gar bei der Paarung zuhilfe. Durchgekniffen wird damit aber nichts, schon einmal gar kein Trommelfell. Und seine Eier legt das Ohrwurmweibchen mitnichten in geöffneten Schädeln ab. Sie zieht ihre Brut in selbstgebauten Erdlöchern oder Rindenhöhlungen auf, die stets peinlich saubergehalten werden. Regelmäßig reinigt sie auch die Larven und versorgt sie mit Nahrung. Mit diesem Maß an Fürsorge übertrifft sie bei weitem die bei den meisten Insekten üblichen Gewohnheiten.